Gestatten – Vom Guten das Böse?

Aufgrund von Bildrechten musste ich die Abbildungen der Nolde-Bilder leider nach Ablauf der u.g. Ausstellung entfernen. Ich habe Euch dafür entsprechende Links gesetzt.

Vor einer Weile habe ich mir, frisch nach ihrem Erscheinen, die Dokumentation Leaving Neverland angeschaut, in der zwei junge Männer von dem sexuellen Missbrauch berichten, den sie als Kinder durch Michael Jackson erfahren haben. Ebenso spannend wie die Doku fand ich die Reaktionen darauf, vor allem seitens „Jacko“-Fans. Man konnte meinen, die Filmemacher hätten den lieben Gott persönlich beleidigt – was aus der Sicht der Anhänger sicherlich auch so war.

Nicht gesehen habe ich bisher die Ausstellung zu Emil Nolde in Berlin, die erstmalig die große Nähe des Künstlers zum Nationalsozialismus in den Fokus stellt. Das Nolde NSDAP-Mitglied war, gegen seine jüdischen Kollegen hetzte und mehr, war nie ein Geheimnis. Doch drüber reden wollte man in der Kunstwelt bisher nie so richtig. Als ich davon las, musste ich an eine Begegnung denken, die ich vor einigen Jahren bei einer Führung zum deutschen Impressionismus hatte, bei der es auch um Nolde ging bzw. seine Bilder. Ob ich dabei seine nationalsozialistische Gesinnung erwähnt hatte, weiß ich nicht mehr, der Fokus lag aber deutlich auf den ausgestellten Werken. Nach der Führung kam eine ältere Dame zu mir, die mir ungefragt erzählte, wie Nolde einem Onkel (? Oder war es ein Freund der Familie? – genau weiß ich es nicht mehr) als junger Mann ein Bild geschenkt habe, damit dieser es verkaufen und damit sein Studium bezahlen konnte. „Ja, er war in der NSDAP, aber er war nicht nur schlecht!“ Der Dame schien es ein drängendes Bedürfnis, die dunkle Seite Noldes mit diesem leuchtenden Beispiel seines Tuns – vielleicht nicht zu überstrahlen, aber doch weniger düster erscheinen zu lassen. „Der war nicht nur schlecht!“ Aber wer würde das auch von einem Menschen (bis auf die ganz krassen Ausnahmen) behaupten, dass er oder sie durch und durch schlecht sei – oder durch und durch gut?

Wie ich vielleicht schonmal erwähnt habe, bin ich ein großer Fan von Caravaggio (1571-1610). In ihm sah man lange das, was man heute einen „Bad Boy“ nennt. Er zog mit Freunden pöbelnd durch die Stadt, umgab sich mit Prostituierten und kam regelmäßig erst vor Gericht und dann hinter Gitter. Seine Straftaten umfassten Körperverletzung, Beleidigung, illegalen Waffenbesitz. Wegen Mordes für vogelfrei erklärt, flüchtete er 1606 aus Rom. Ich muss gestehen, dass es auch diese Mischung aus kreativer und krimineller Energie, aus Ganove und Genie war, die mir an Caravaggio gefiel. Als ich dann las, dass neuere und deutlich intensivere Forschungen diesen Mythos zu Fall brachten [aus Mord wurde Totschlag durch Selbstverteidigung; Beleidigungen und Schlägereien gehörten damals zum Alltag – was sie nicht besser macht, den Maler aber nicht schlechter als seine Zeitgenossen. Wen, wenn nicht die Damen des horizontalen Gewerbes, hätte er als Modelle nehmen sollen? Auch hier war er kein Einzelfall], fand ich das fast ein wenig schade. Im Vergleich zum alten Haudegen war der neue Caravaggio so blass, so normal. – Aber wenn ich ehrlich bin, waren es die 400 Jahre zeitlicher Pufferzone, die es mir  ermöglicht haben, seine fraglichen Charaktereigenschaften als faszinierenden Teil einer tiefgründigen Künstlerseele zu interpretieren, statt als Persönlichkeitsmerkmale, die ich bei einem Zeitgenossen schlichtweg als negativ beurteilt hätte.

Woher kommt es bloß, dass wir bei Künstlern das Bedürfnis zu haben, sie als vornehmlich oder gar ausschließlich gut anzusehen und ihre dunklen Seiten entweder aufhellen oder gleich ganz ignorieren wollen? Dass wir bei ihnen, an dessen Werken wir uns erfreuen, die wir aus der Ferne für ihre Begabungen bewundern, unsere moralischen Messlatten viel tiefer anlegen, als bei denen, die wir kennen (inklusive uns selbst). Wieso nur ist das so?

Nun bin ich keine Psychologin (höchstens hier und da mal am Küchentisch), aber ein Stück weit kann ich den Versuch der Dame, Nolde ins recht… – ähm, nein, sagen wir lieber: in ein besseres Licht zu rücken, verstehen. Seine Bilder haben eine unglaubliche Kraft und Ausstrahlung, die Natur ist bei ihm überwältigend, seine Figuren nahbar und verletzlich. Aus seiner Malerei scheint eine hohe Sensibilität zu sprechen, eine unverhohlene Emotionalität, die uns berührt. – Etwas, dass Caravaggio in völlig anderer Manier ebenso gut konnte. Wie, fragt man sich da, kann dann jemand, der solche Bilder schafft, gleichzeitig so ein A* gewesen sein?!

„Schönheit wird die Welt retten“, hat Dostojewski gesagt. Vielleicht liegt darin eine Antwort auf meine Fragen. Tatsächlich sehnen wir uns nach dem Schönen. Wir umgeben uns damit, wir lassen uns davon einlullen; es kompensiert ein Stück weit die Schwere und Dramatik der Welt, macht sie leichter ertragbar, hält uns manchmal vielleicht auch davon ab, ganz an ihr zu verzweifeln. Und mit ihrer Gabe, Schönes zu erschaffen, werden Künstler für uns „Normalsterbliche“ dann womöglich zu so etwas wie „Heilige“, womöglich sogar zu Gottheiten, die wir verehren, an“himmeln“ (sprich: in den Himmel heben) – und verteidigen, wenn jemand das Sakrileg begeht, gegen sie zu sprechen.

Viele Radiostationen haben sich nach der Ausstrahlung von Leaving  Neverland gefragt, ob man Michael Jackson nun überhaupt noch spielen darf, einige haben sich tatsächlich dazu entschieden, seine Lieder aus dem Programm zu streichen. Fans aus aller Welt sagen, sie können, seit sie den Film gesehen haben, seine Lieder nicht mehr unbeschwert hören. Darf man, soll man sich an Bildern von Emil Nolde noch erfreuen, Poster und Postkarten kaufen, seine Wohnung damit schmücken, wo man doch weiß, welcher Ideologie er anhing?

Ich glaube, den Konflikt mit dem „Bösen im Guten“ kriegen wir nur dann gelöst, wenn wir uns vor Augen führen, dass Künstler eben auch nur Menschen sind (Überraschung…); eine Quintessenz der menschlichen Natur, mit allem, was nun mal dazu gehört. Die einen mit einer weniger, die anderen mit einer stärker ausgeprägten A*-Seite. Und: Das Werk kann nichts für seinen Urheber. Das, was wir aus Kunst heraushören, -lesen, -sehen, was uns daran beschwingt, berührt, ermutigt, erfreut, liegt stärker in uns selbst begründet als in dem, der sie
gemacht hat. Der Empfänger darf die Botschaft mögen, der Sender muss ihm
trotzdem nicht sympathisch sein.

.

.

.

****

Ich mache eine kleine Kunstpause und sammle Inspirationen. Damit Ihr aber keine Entzugserscheinungen bekommt, schaut doch mal hier:
https://kunstschoen.de/

Auf ihrer Seite KUNSTschön schreiben Britta Sopp und Tina Bungeroth über das, vor dem ich mich gerne drücke: Aktuelle Ausstellungen, Techniken und Material, Bücher zur Kunst und über „alles, was das Leben schöner, kreativer und lebendiger macht!“ Reinschauen lohnt sich!

.

.

.

Michelangelo Merisi, gen. Caravaggio: Emmaus, 1606, Pinacoteca di Brera| Emil Nolde in München, Januar/Februar 1937. Foto von Helga Fietz, der Ehefrau von Noldes Münchner Kunsthändler Günther Franke, Nolde Stiftung Seebüll, © Nolde Stiftung Seebüll | Michelangelo Merisi, gen. Caravaggio: David mit den Haupt des Goliath, um 1600/01, © Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie | Emil Nolde: Die Sünderin, 1926, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, erworben 1999 mit Unterstützung des Vereins der Freunde der Nationalgalerie und des Landes Berlin, © Nolde Stiftung Seebüll, Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jörg P. Anders |Michelangelo Merisi, gen. Caravaggio: Das Abendmahl in Emmaus, 1605/06, © Pinacoteca di Brera | Britta und Tina von KUNSTschön, Diptychon von Robert Süess (Foto: Inga Steeg)

2 thoughts on “Gestatten – Vom Guten das Böse?

  1. Deine Fazit aus dem Konflikt zwischen Gut & Böse gefällt mir sehr. Es erleichtert eine „angstfreie“ Kunstbetrachtung!!!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert