Gestatten – Fr_gmen_e

Wie man in der Kunst mit Lücken umgeht

Letztes Mal habe ich ja über meine eigene Unvollständigkeit geschrieben und mir selbst mehr wabi-sabi vorgenommen. Heute  geht es um Macken, Lücken und Risse in der Kunst – und wie damit umgegangen wird. Auch hier wird uns ein hübsches japanisches Wort begegnen.

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So ganz wie möglich, so schön wie nötig

Sicher kennt Ihr alle die Geschichte von Michel aus Lönneberga, der mit seinem Kopf in der Suppenschüssel stecken bleibt. Die Mutter holt den Schürhaken, aber der geizigen Vater fährt mit Michel zum Arzt. Dort verbeugt sich der Sohnemann höflich, die Schüssel zerschlägt an Doktors Schreibtisch und zerspringt in zwei Teile. Das Kind ist gerettet, das Porzellan zerschlagen, aber egal: Die Schüssel wird vom Vater einfach wieder zusammengeklebt.

In der Kunst ist das nicht ganz so einfach. Von vielen Werken haben nur Bruchteile die Zeit überdauert. Bei Plastiken und Skulpturen ist alles, was einst abstand (Henkel, Ohren, Nasen, Arme) weggebrochen, Pergament ist angenagt oder vergammelt, Leinwände zerstört oder beschnitten etc. etc. Nun lässt sich mit solchen Fehlstellen unterschiedlich umgehen: Oft kann man nur versuchen, den weiteren Verfall möglichst zu verlangsamen. Manchmal helfen neu entwickelte Materialien, den ein oder anderen Bildträger zu stabilisieren. Manchmal ist aber auch Hopfen und Malz verloren, dann bleibt das Objekt für immer im Schrank der unrettbaren Patienten liegen. Vielleicht wird es in Zukunft ja eine Methode geben, die Todgeweihten doch noch zu retten.

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Krümel erzählen Geschichte

Jedes Museum besitzt eine geradezu unendliche Zahl an Fragmenten. Manchmal sind es fast nur noch Krümel von Objekten, die die Zeit überdauert haben – wie z.B. die nur Zentimeter großen Gefäßfragmente des Beitragsbildes. Ob sie jemals ausgestellt werden, ist fraglich. Fraglich ist daher umso mehr, warum Museen sie noch behalten. Ich schätze, wenn sie sowieso schon zu den wenigen Zeugnissen gehören, die von der Kultur einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort übrig geblieben sind, hat man lieber noch die Krümel, als gar nichts.

Und trotz ihrer Winzigkeit können auch solche Krümel das ein oder andere Geheimnis lüften: so lässt sich anhand von Glas-, Ton- oder Metallresten zum Beispiel die Zusammensetzung der Materialien untersuchen und daraus schließen, wo ein Objekt entstanden ist. – Was auch Aufschluss über Handelswege geben kann und natürlich über bestimmte Geschmäcker in der jeweiligen Zeit. Vielleicht lässt sich das gut mit den Indizien eines Verbrechens vergleichen: Jede gefundene Hautschuppe zählt, um das Geschehene zu rekonstruieren! Und wohl auch deswegen wird in Museen niemals etwas weggeworfen.

Vollkommen – langweilig

Das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt hat vor vielen, vielen Jahren mal zwei steinerne Löwenfiguren geschenkt bekommen, die lange das Dach eines japanischen Gebäudes verziert hatten. Ganz entgegen der japanischen Tradition (Stichwort: wabi-sabi), wollte man sie möglichst hübsch übergeben und sandstrahlte sie, um die Jahrhunderte alten Spuren von Wind und Wetter so gut es ging zu beseitigen. Die Beschenkten waren hingegen enttäuscht: Die beiden Raubkatzen sahen aus, als seien sie kurz vorher im Gartencenter gekauft worden.

Zumindest in Europa (bei anderen Ländern kenne ich mich nicht aus) ist man mittlerweile dazu übergegangen, Objekte nach der Restauration nicht mehr aussehen zu lassen wie frisch aus der Werkstatt. Der Zahn der Zeit soll ruhig zu sehen sein. Außerdem wird heute so vorgegangen, dass sich alle Erhaltungsmaßnahmen wieder revidieren lassen. Denn so manches Kunstwerk ist schon unwiderruflich kaputtrestauriert worden…

Und haben die unvollständigen Stücke nicht einen ganz eigenen Charme? Mal ehrlich: Könnt Ihr Euch die Venus von Milo mit Armen (hier ein Rekonstruktionsvorschlag), das römische Kollosseum in Vollendung und die Nofretete mit zwei Augen vorstellen? Ich finde es sehr passend, dass der Begriff Fragment die Aufforderung „Frag!“ gleich mit beinhaltet. Denn Leerstellen sind ein Hingucker und werfen gleich die Frage auf, was da wohl ursprünglich mal gewesen ist. Während Vollkommenes keinen Platz mehr für eigene Gedanken und Vorstellungen lässt. Ist das halbe Gesicht einer Königin nicht gerade deshalb so reizvoll, weil der Fokus nun vollends auf dem sinnlichen Mund liegt? Und man sich unwillkürlich fragt, wie schön dieses Porträt in Gänze wohl gewesen sein muss? Ich fand es auf jeden Fall so schön, dass ich es hier nochmal verwendet habe.

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Goldene Heilkunst

Mit der Kunst ist es, wie mit allem im Leben: Manches geht unwiderruflich verloren, manches kaputt. Einiges davon lässt sich reparieren, einiges nur Scherben als Erinnerung übrig. So ist es eben. Eine schöne Art, Bruchstücke wieder zusammenzufügen, gibt es in der japanischen Kunst (mit der ich mich überhaupt nicht auskenne, auch wenn ich schon wieder darüber schreibe!): Wabi-sabi haben wir schon beim letzten Beitrag als Fähigkeit kennengelernt, das Schöne im Unvollkommenen zu sehen und die Zeichen von Veränderung und Verfall zu akzeptieren. Mir sympathisch ist auch die japanische Vorgehensweise des Kintsugi. Anstatt zu versuchen, die Schäden an Keramiken möglichst unsichtbar zu machen, werden hier die Bruchstellen mit Gold wieder zusammengefügt. Es sind also die Narben, die das Objekt besonders kostbar und einzigartig machen. 

Und dazu, glaube ich, brauche ich gar nichts mehr zu sagen.

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Nächstes Mal schauen wir nochmal von künstlerischer Seite auf das Thema. Es geht um unvollendete Kunstwerke – gewollt oder ungewollt.

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Drei Fragmente von Glasgefäßen, 1. bis 3. Jh., Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg | Glas mit drei beschrifteten Bändern in kursiver Schrift, 12. Jh., Syrien, Raqqa, Metropolitan Museum of Art, New York | Fragment eines Königinnen-Kopfes, ca. 1353-1336 v. Chr., Amarda Periode, ebd. | Eiraku Tokuzen: Teekanne mit Pfingstrosen-Arabeske und Pflaume im Kōchi-Stil mit Kintsugi, 2. Hälfte 19. Jh., ebd.

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