Gestatten – Tempus fugit…

Über die neu konzipierte Gewölbehalle des Mainzer Dommuseums

Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber nach über einem Jahr hat auch mich die Coronamüdigkeit gepackt. Einerseits rinnt mir die Zeit wie Sand unaufhaltsam durch die Finger – Tempus fugit eben. Gleichzeitig empfinde ich sie als bleiern und unbewegt. Nichts scheint voran zu gehen. Und so schwankt auch mein Gemüt zwischen lähmender Schwere und zielloser Unruhe.

Es ist auch schon ein dreiviertel Jahr her, dass ich bei der Neueröffnung der Gewölbehalle im Mainzer Dommuseum war – und darüber schreiben wollte. Und wenn auch das Museum gerade zwischen Auf und Zu, Geschlossen und Geöffnet schwankt, so ist sein neu konzipierter Teil der Sammlung doch so oder so ein Lichtblick: Wer ihn real nicht sehen kann, ist auch mit dem dazu erschienenen Katalog allerbestens bedient.

Der „jüngere“ Teil der Gewölbehalle (wohl frühes 13. Jh.) im leeren Zustand, c) BDDM, M. Schawe

Hinab in die Vergangenheit

Die Gewölbehalle (genaugenommen sind es zwei Hallen) hat sechs Meter unter Bodenniveau die Zeit fast unverändert überdauert. Während über ihr die Jahrhunderte vorbeizogen, Kriege und Besatzungszeiten, Architektur- und Zeitgeschmäcker das Gesicht der Stadt veränderten, treffen wir in ihr heute noch auf die Abdrücke der Verschalungen, die vor 1.000 Jahren das Tonnengewölbe im vorderen Teil formten. Und auf die eckigen, gedrungenen Pfeilern mit den wie kräftige Fontänen herauswachsenden Bögen, die den hinteren Teil  so klar wie elegant in 6 x 2 Kompartimente teilen und seit 800 Jahren stützen. Der Raum an sich ist also schon ein Erlebnis!

Dass das Museum seine Objekte in historisch passenden Räumen zeigen kann, ist ein großer Zugewinn. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, eine museale Architektur und Konzeption in Räumen zu etablieren, die nicht für diesen Zweck gedacht waren. Die Gewölbehalle ist in ihrer Grundform ein langer Schlauch, der nach ca. einem Drittel auch nochmal absinkt. Das hintere Drittel verliert sich beim Betreten irgendwo im Nirgendwo – sehr zum Nachteil der dort plazierten Objekte. Wie geht man mit einer solchen Gegebenheit um?

Von 2012 bis 2019 war ich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Museums zuständig und bin dem Haus auch deshalb sehr verbunden. Entsprechend subjektiv mag mein Eindruck der Neugestaltung sein – Ihr mögt mir verzeihen. Ich war zwar an den Planungen nicht aktiv beteiligt, habe aber erlebt, welche Hürden neben der „reinen“ Einrichtung und Platzierung der Objekte zu nehmen waren: Denkmalpflegerische und konservatorische Vorgaben, Installierung von Einbauten, Elektrizität etc. in Wände und Decken, die keiner modernen Norm entsprechen. Wie bei allen alten Gemäuern wäre es auch hier sicher einfacher gewesen, alles abzureissen und neuzubauen, als sich den historischen Gegenbenheiten zu unterwerfen. Doch die Mühen haben sich gelohnt, und meine Subjektivität soll auch dazu dienen, die viele unsichtbare Arbeit, deren öffentliches Resultat nur die Spitze des Eisbergs ist, zu würdigen.

„Willkommen in der Hölle.“ Teufelsfratze vom ehem. Westlettner des Doms, um 1239

Wiedersehen in Lila…

In Würde gealtert: Der originale Engel vom Nordwestquerhaus des Doms, um 1220-1239

Mutig! war mein erster Gedanke, als ich die Gewölbehalle im neuen Anstrich sah. Ein sehr eigenes Lila bildet den (haha…) roten Faden durch die Ausstellung. Ich hätte mich das nicht getraut! Aber die Farbe korresponiert nicht nur gut mit den Sammlungsstücken und stellt sie so herausragend dar, wie sie qualitativ sind. Sie schafft es auch, die hinteren Raumteile, die durch die schlauchartige Architektur bisher optisch verschluckt wurden, gleich beim Betreten der Halle sichtbar zu machen. Mich freute das Wiedersehen mit „alten Bekannten“: Den Seligen und Verdammten von der früheren Chorschranke des Doms, dem „kachezenden“ Teufel – alle aus den genialen Händen des Naumburger Meisters – und dem von mir sehr geliebten, weil so würdig verwitterten Engel vom Nordwestquerhaus.

…und neue Entdeckungen

Doch auch mir neue Objekte haben nun ihren verdienten Platz in der Sammlung gefunden. Allgemein sagt man, dass nur 20 Prozent aller Exponate eines Museums ausgestellt sind. Die meisten schlummern im Depot. Nicht selten hat das mit ihrer Qualität zu tun. Doch geschieht es dann und wann, dass man hier noch einen richtigen Knüller entdeckt. Im Fall des Dommuseum war dies der steinerne Kopf einer Maria. Sein ursprüngliches Figurenensemble, das sogenannte Mainzer Weltgericht aus der Zeit um 1260, war in Teilen schon in der Ausstellung zu sehen gewesen. Es bestand einst aus 12 Apostelfiguren, einer Deesis – also Christus mit Maria und Johannes dem Täufer zu seinen Seiten – sowie wohl einer weiteren männlichen Figur. Vermutlich zierte es im 13. Jahrhundert die Chorschranke (Lettner) einer Mainzer Kirche.  „Um“, „Wohl“, „Vermutlich“… Ihr merkt, je mehr wir in die Vergangenheit reisen, desto verschwommener werden die faktischen Umrisse.

Auch mit über 750 Jahren noch wunderschön: Die Nach ihrem Entdecker benannte Virgo Engelmannensis

Auch wie es dazu kam, dass die Gruppe getrennt wurde und sich die Hälfte der Apostel – ziemlich im Mitleidenschaft genommen – Ende der 1920er in einem kleinen rheinhessischen Dorf wiederfand, ist nicht mehr rekonstruierbar. Umso erfreulicher, dass sich nun zu der Männertruppe die einzige Frau des Ensembles, wenn auch als Fragment, gesellt. Der Kopf der Maria ist stark bestoßen, dennoch lässt sich an seiner Gestaltung und Qualität die Zugehörigkeit zur Apostel-Deesis-Gruppe deutlich ablesen. Ich persönlich finde, dass Fragmente oft eine viel größere Ausstrahlung besitzen, als makellose Figuren. Vielleicht, weil der Fokus eben mehr auf das Gesicht gerichtet ist, wir der „Person“ bewusster in die Augen schauen. Durch ihre hinterlassenen Spuren wird aber auch die Zeit sichtbar, die seit der Schaffung der Skulptur vergangen ist. Dass uns die Maria im Dommuseum durch sieben Jahrhunderte hindurch anschaut, beeindruckt mich schon sehr…

Das Gewicht der Zeit

Alles, was es über die Objekte in der Gewölbehalle und die Zeit(en) ihrer Entstehung gibt, haben die Museumsmitarbeiter*innen in einem großen und großartigen Katalog zusammengetragen, der als erster Band der „Meisterwerke des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz“ erschienen ist – und er ist selbst ein Meisterwerk. Ich habe wirklich nicht den Hang dazu, Bücher zu „verehren“. Mir geht nicht das Herz auf, nur weil ein Buch hübsch aussieht. Aber die kupferfarbene, imprägnierte Schrift des Covers hat mich doch einige Male dazu verleitet, drüberzustreichen. Es ist sooo schön!!! Der Umschlag verspricht, was der Inhalt hält: Meisterhafte Fotografien von Marcel Schawe und so interessante wie lesbare Texte lassen jedes Objekt lebendig werden, auch ohne, dass man direkt vorm Original steht. Mit 2,5 Kilo ist der Katalog zwar keine Bett- oder Urlaubslektüre, doch 1300 Jahre Zeit haben nun mal ihr Gewicht.

Aus der Geschichte lernen?

Natürlich sind Ausstellung und Katalog mehr als nur eine Aneinanderreihung von Kunstwerken. Erzählt werden hier nicht weniger als die ersten 1300 Jahre der Stadt Mainz, ihre römischen Wurzeln, der Etablierung des Christentums und nicht zuletzt den ungeheuren Einfluss, die Stadt und Bistum in dieser Zeit erlangten (und noch lange behielten). Das mag für Nicht-Mainzer wenig interessant klingen, doch sind bestimmte Themen – Macht, ihr Erhalt und ihr Verlust, Strukturen und Veränderungen im gesellschaftlichen Zusammenleben, der Umgang mit Krisen und Konflikten, die Suche nach einer höheren Warheit und einem tieferen Sinn – so weltumspannend wie zeitlos. Sie sind schlicht im Wesen des Menschen verankert.

Die Zeitzeugen, die wir in den Exponaten vorfinden, sind nur ein kleiner Bruchteil dessen, was die Vergangenheit ausgemacht hat. Und ich frage mich manchmal, wie viel von dem, was wirklich war, was wirklich geschehen ist, wir daraus tatsächlich ableiten können. „Um“, „wohl“, „vermutlich“ – siehe oben…. Wenn Geschichte wichtig ist, um aus ihr zu lernen, was lernen wir dann überhaupt, wenn das Wissen über sie so lückenhaft ist? Wenn wir zwangsläufig nur aus unserer jetzigen Wahrnehmung heraus Früheres betrachten können…

Mich würde Eure Meinung interessieren! Da Ihr diesen Blog lest, gehe ich davon aus, dass Ihr ein Interesse (auch) an Geschichte habt. Findet Ihr es einfach „nur“ spannend, in die Zeit zu reisen, oder hat die Auseinandersetzung damit für Euch einen gewissen Erkenntniswert? Schreibt mir gerne in die Kommentare!

1 thought on “Gestatten – Tempus fugit…

  1. Liebe Esther,
    Sie haben mir richtig Lust auf diesen Museumsbesuch gemacht. Auch mir fehlen die Besuche sehr. Für mich sind die Inspirationen, die an solchen Tagen mit nach Hause nehmen kann, besonders wertvoll. Online-Rundgänge sind zwar auch interessant und lehrreich, aber halt doch etwas anderes.

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